Dekra-Chef Zurkiewicz: Vollautomatisierte Systeme werden mindestens so sicher sein wie der Mensch

Mit einem Umsatz von 4,3 Milliarden Euro ist die Dekra SE nicht nur mit Abstand die größte deutsche Prüforganisation, sondern auch eine verlässliche Gewinnmaschine. Die Erträge fließen aber nicht an Aktionäre, sondern an den gemeinnützigen Dekra e.V., der damit die Welt sicherer und nachhaltiger machen soll.

Eine Dividende für die mehr als 22.000 Mitglieder – hauptsächlich Transport- und Logistikunternehmen – gibt es nicht. Dekra wird seit 2022 von Stan Zurkiewicz geführt. Sein Ziel: auch weltweit an die Spitze der Branche rücken.

Dekra wird in diesen Tagen 100 Jahre alt. Worauf sind Sie aus dieser Zeit besonders stolz?

Auf unseren Beitrag zur Verkehrssicherheit und damit zur Rettung unzähliger Menschenleben. In den 1970er-Jahren starben noch über 20.000 Menschen auf deutschen Straßen. Heute sind es weniger als 3000.

Und das liegt neben dem technischen Fortschritt, Verbesserungen der Infrastruktur und neuen Gesetzen auch an den regelmäßigen Fahrzeuginspektionen, die von Dekra seit den 1960er-Jahren durchgeführt werden. Unser Ziel ist, dazu beizutragen, dass diese Zahl irgendwann auf null sinkt. 

Gibt es Entscheidungen, die Sie rückblickend anders getroffen hätten? 

Ich hätte früher mit der Internationalisierung begonnen. Dekra ist der größte Akteur im Bereich der Fahrzeugprüfung und -zertifizierung, was zum Teil auf die Größe des deutschen und europäischen Marktes sowie auf die Stärke Deutschlands in der Automobilindustrie zurückzuführen ist.

Wir haben uns Jahrzehnte lang sehr stark allein auf Deutschland konzentriert. Ein früherer globaler Ausbau hätte es uns ermöglicht, unsere technologische Führungsrolle noch konsequenter auch auf internationaler Ebene zu etablieren.

Sie sind mit jährlich 32 Millionen Fahrzeuginspektionen weltweiter Marktführer in diesem Bereich. Welchen Anteil am Dekra-Umsatz machen diese aus?

Wir erwirtschaften mit fahrzeugnahen Dienstleistungen etwa 2,5 von 4,3 Milliarden Euro Umsatz. Dazu zählen nicht nur Fahrzeuginspektionen, sondern auch Berichte für Gebrauchtwagen oder Gutachten für Versicherungen. Inspektionen wie die Hauptuntersuchungen machen etwa die Hälfte aus und sind das Herzstück unseres Kerngeschäfts.

Ist diese Abhängigkeit ein Risiko?

Nein, denn der weltweite Fahrzeugbestand wächst seit Jahren und wird zugleich älter – damit steigt auch der Prüfbedarf. Zudem sind Fahrzeugprüfungen vom Gesetzgeber vorgeschrieben und damit konjunkturunabhängig.

Im Übrigen sind etwa 90 Prozent unserer Tätigkeiten regulierte Dienstleistungen. Das betrifft neben Autos auch Industrieanlagen, Kernkraftwerke, Medizintechnik, Telekommunikationsausrüstung und vieles mehr. All diese Objekte müssen entweder als Prototyp oder nach Inbetriebnahme fortlaufend geprüft werden.

Hersteller weltweit arbeiten am autonomen Fahren. Wie blicken Sie auf diese Entwicklung?

Ich hatte kürzlich in China die Gelegenheit, ein autonom fahrendes Taxi zu testen. Ich war zutiefst beeindruckt, wie geschickt das System komplexe Verkehrssituationen gemeistert hat. Automatisierte Fahrfunktionen entwickeln sich stetig weiter – in absehbarer Zeit könnten in klar definierten Bereichen auch hochautomatisierte Anwendungen (Stufe vier) Teil des Alltags werden.

Sie haben keine Sicherheitsbedenken?

Der entscheidende Punkt ist die strikte Einhaltung der Vorschriften. Genau hier kommen wir ins Spiel. Wir betreiben am Lausitzring Europas größten Teststandort für automatisiertes Fahren und testen dort bereits viele dieser Systeme. Und es wird der Zeitpunkt kommen, an dem vollautomatisierte Systeme mindestens so sicher sind wie der Mensch – wenn nicht sogar noch sicherer.

Denn die Mehrheit der heutigen Verkehrsunfälle ist auf menschliches Fehlverhalten zurückzuführen. Und schon seit Jahren tragen fortschrittliche Fahrerassistenzsysteme, die Sensoren wie Kameras, Radargeräte und Lidars nutzen, dazu bei, unsere Straßen sicherer zu machen. Im Hinblick auf die Verkehrssicherheit ist der Fortschritt des automatisierten Fahrens also ausdrücklich zu begrüßen. Für mich stellt sich dann die entscheidende Frage. 

Die da wäre?

Wenn Fahrzeuge zunehmend die Rolle des Fahrers übernehmen, müssen diese Fahrzeuge dann mehr oder weniger getestet werden? Für mich ist die Antwort klar: Wenn unser Leben künftig von einigen Sensoren und Algorithmen abhängt, dann müssen wir diese Komponenten und die dahinterliegenden Systeme während der gesamten Betriebsdauer hinweg kontinuierlich validieren.

Während Sie in China zuletzt kräftig gewachsen sind, haben Ihre wichtigsten Kunden, die deutschen Autohersteller, dort an Boden verloren. Wie passt das zusammen?

Als wir 2009 in China Fuß gefasst haben, waren unsere Hauptkunden tatsächlich die deutschen Automobilhersteller und -zulieferer. Im Laufe der Zeit bedienten wir auch die chinesische Autoindustrie und haben unsere Kundenbasis neu ausgerichtet. 

Die deutsche Automobilindustrie leidet darunter, dass chinesische Konkurrenten in vielen Bereichen aufgeholt und sogar überholt haben. Könnte Ihnen das auch passieren?

Der chinesische Markt ist tatsächlich äußerst wettbewerbsintensiv und lokale Akteure gewinnen an Reife. Dennoch sind wir in einer sehr starken Position. Denn für Dekra spricht unsere technische Expertise und unsere innovativen Prüfmethoden. Auch das Vertrauen in Dekra ist stark – in unsere Marke, in unsere Berichte, in unsere Zertifikate – und unsere Unabhängigkeit. Da sind wir eine feste Größe. 

Ihre chinesischen Wettbewerber bereiten Ihnen also noch keine großen Sorgen? Wer sind Ihre wichtigsten Wettbewerber?

Wir konkurrieren vor allem mit unseren deutschen Mitbewerbern und den größten globalen TIC-Unternehmen. (TIC: Testing, Inspection, Certification, Anm. d. Red.) Wir sind weltweit die viertgrößte unabhängige Prüf- und Zertifizierungsorganisation. Unsere Strategie ist darauf ausgerichtet, weiter zu wachsen.

Wie wollen Sie Ihre Wettbewerbsposition weiter stärken und den Rest des Feldes auf Distanz halten?

Das ist der Kern unserer Strategie für die kommenden fünf Jahre: unsere führende Position zu halten und auszubauen. Dazu konzentrieren wir uns auf die Bereiche, in denen wir bereits an der Spitze stehen oder aber sehr gut positioniert sind, eine Führungsrolle zu übernehmen. Angesichts unserer mehr als 32 Millionen Fahrzeugprüfungen pro Jahr gibt es beispielsweise niemanden, der Dienstleistungen in diesem Bereich besser erbringen kann als wir. 

Und wo sehen Sie sich in der Position, die Führung noch zu übernehmen?

Zum Beispiel beim Thema Nachhaltigkeit, das für uns sowohl Services rund um die Energiewende als auch Umwelt-, Sozial- und Governance-Aspekte der Unternehmenspraxis umfasst (ESG). Dort verschwimmen gerade die Grenzen unserer TIC-Branche und anderer Branchen. Das zeigt sich sehr gut an den Nachhaltigkeits-Audits im Rahmen der europäischen CSRD-Richtlinie.

Dabei handelt es sich im Kern um technische, datengetriebene Berichterstattung – keine klassische Finanzprüfung. Genau hier liegt unsere Stärke: Wir verbinden technische mit regulatorischer Expertise und stehen für verlässliche Prüfung der Nachhaltigkeit. Bisher machen das vor allem die vier großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften. Ein anderer Bereich ist Digital Trust – oder digitales Vertrauen. 

Was meinen Sie damit?

Fast alle Systeme haben mittlerweile auch eine Softwarekomponente und sind drahtlos vernetzt. Wirklich sicher sind diese nur dann, wenn sie auch cybersicher sind. Wir haben hochqualifizierte Experten, die eine Reihe von hochmodernen Cybersicherheitstests an neuen Produkten durchführen. Wir entwickeln auch zunehmend Tools, mit denen wir einen großen Teil der Tests automatisieren können.

Dies ist besonders wichtig beim Testen von Künstlicher Intelligenz, einem weiteren Bereich, in dem wir uns weiter etablieren wollen. Das europäischen KI-Gesetz wird in verschiedene Risikokategorien eingeteilt. Für Systeme mit höherem Risiko wird eine obligatorische Konformitätsbewertung durch benannte Stellen wie Dekra erforderlich sein. Aber wie testet man KI-Systeme? Wir investieren gezielt in eigene Labore, Prüfmethoden, Entwicklung von Testtools und den Aufbau von Fachwissen.

Wir sind Teil eines europäischen Kompetenznetzwerks, um uns als führende Instanz für die Bewertung digitaler Vertrauenswürdigkeit zu etablieren – insbesondere im Bereich künstlicher Intelligenz.  

In vielen Ländern geht der Trend derzeit eher zur Abschaffung von Vorschriften und Sicherheitsstandards. Gefährdet das Ihr Geschäftsmodell?

Die neue Bundesregierung nimmt übermäßige Regulierung als Hindernis für Wirtschaftswachstum und Innovation wahr. Und das zu Recht. Wenn Bürokratie Innovation verhindert, ist niemandem geholfen.

Regulierungen wie CSRD (Corporate Sustainability Reporting Directive - Richtlinien der EU zur Berichterstattung über Nachhaltigkeit) sind hierfür ein sehr gutes Beispiel. Das Ziel, Unternehmen zur Berichterstattung über ihre Nachhaltigkeitsleistung zu verpflichten, würde wohl jeder unterstützen.

Wenn Sie nun aber beispielsweise im Rahmen Ihres CSRD-Berichts rund 800 verschiedene Datenpunkte melden müssen, stellt sich durchaus die Frage, ob das zielführend, oder vielleicht sogar kontraproduktiv, ist.

Entscheidend ist, wie die Deregulierungsagenda umgesetzt wird. Richtig umgesetzt könnte sie zu einer größeren wirtschaftlichen Dynamik führen und, mithilfe des Wirtschaftswachstums, das Wachstum unserer Branche unterstützen.

In den USA scheint das wahllos zu passieren.

Die Lage in den USA ist sehr dynamisch und volatil, und es ist schwer abzuschätzen, wie sich die Situation entwickelt. Unternehmen brauchen Planbarkeit, um sinnvoll investieren zu können. Wir hoffen, dass bald mehr Klarheit herrscht.

Sie nannten kürzlich den Verteidigungssektor als Geschäftsfeld mit Potenzial. Bei Panzern und Raketen denken nur wenige Menschen an Dekra. Welche Dienstleistungen bieten Sie hier an und was planen Sie?

Ich möchte betonen, dass wir uns ausschließlich in der europäischen Verteidigungsindustrie engagieren. Und der EU-Verteidigungssektor erlebt derzeit enorme Investitionen. Denken Sie nur an die 500 Milliarden Euro, die Deutschland in die Verteidigungsindustrie investiert. Ähnliche Trends beobachten wir auch in anderen europäischen Ländern.

In unserem Kerngeschäft prüfen wir beispielsweise seit Jahren Militärfahrzeuge oder bieten die zerstörungsfreie Prüfung von Materialien an. Für die Zukunft sehen wir eine wachsende Rolle in Bereichen der Cybersicherheit für kritische Infrastrukturen wie Kraftwerke, Telekommunikationsnetze und Energiesysteme. Ein Beispiel: wir testen Drohnen, ob sie technisch robust oder beispielsweise gegen Cyberangriffe abgesichert sind. 

Vielen Dank für das Gespräch!