Eine Branche im Blindflug

München. Selbst Optimisten verschlägt es die Sprache – und Pessimisten gehen die Superlative aus: Die Autohersteller, ihre Zulieferer und Händler stecken in der schwersten Krise seit dem Krieg: „Dies übertrifft alles, was wir bisher kannten“, sagt BMW-Chef Norbert Reithofer. „Derlei Dramatik haben wir noch nicht erlebt“, stimmt VW-Chef Martin Winterkorn zu. Und niemand weiß, wie es weitergeht: „Jetzt eine verlässliche Prognose abzugeben, wäre unredlich“, sagt Porsche-Chef Wendelin Wiedeking. Dabei müssten die Hersteller jetzt ihre Produktions- und Absatzplanungen für das erste Quartal zusammenstellen.

Doch es gibt keine verlässlichen Daten. Die Branche ist im Blindflug. „Es gibt in der Industrie derzeit nur Schätzungen, wie das erste Quartal 2009 wird“, sagt Jürgen M. Geißinger, Chef der Schaeffler- Gruppe und Sprecher der Zulieferer im VDA. „Diese Schätzungen bewegen sich in einer Größenordnung von minus 20 Prozent – wie schon in den letzten beiden Monaten.“ Setzt sich der Trend fort, würden 2009 in Deutschland über eine Million Fahrzeuge weniger gebaut als 2008. Das ist die Kapazität von vier großen Werken. Es könnte sogar schlimmer kommen: Manche Zulieferer klagen, ihre Kunden hätten für die nächsten Monate 50 Prozent weniger Teile bestellt.

Das werden viele der zumeist mittelständischen Unternehmen nicht überleben: Romeo Grill, Chefvolkswirt des Kreditversicherers Euler Hermes, erwartet bei den Zulieferern eine Insolvenzwelle: „Die Zahl der Betriebe wird nach unserer Einschätzung abnehmen, und zwar im knapp zweistelligen Prozentbereich.“ Schon fürchten die deutschen Autohersteller, dass Lieferanten ausfallen: „Wir beobachten mit Sorge, dass Zulieferer unverschuldet in Bedrängnis kommen, weil ihnen von den Banken die Refinanzierung verweigert wird“, sagt Porsche-Finanzchef Holger Härter.

Unter den Zulieferern, die um ihre Existenz kämpfen, sind große Namen wie der Getriebehersteller Getrag und Stankiewicz, Spezialist für Schallisolation. Allein bei Stankiewicz stehen 2200 Arbeitsplätze auf dem Spiel, 1300 davon in Deutschland. Willi Diez von der Hochschule Nürtingen rechnet damit, dass in Deutschland 50.000 Arbeitsplätze, die Hälfte der in den vergangenen 15 Jahren in der Autoindustrie geschaffenen Stellen, wieder verloren gehen. So wie bei BMW: Die Bayern haben statt der angekündigten 8100 Stellen in diesem Jahr schon 8600 Stellen abgebaut, davon 5500 Leiharbeiter.

Als kurzfristig wirksame Maßnahme setzen die Hersteller in den europäischen Autowerken auf verlängerte Weihnachtsferien. Honda schließt das Werk Swindon (UK) sogar für zwei Monate. Nicht besser sieht es bei den Nutzfahrzeugherstellen aus: Weil die Aufträge um 40 Prozent eingebrochen sind, baut MAN 2200 Stellen ab, davon 1600 Leiharbeiter. Im Daimler-Werk Wörth rechnet man im ersten Quartal mit einer um 30 Prozent geringeren Produktion. Selbst die Emerging Markets hat die Krise erreicht: In Indien sank der Auftragseingang in den Werken des Zulieferers Bosch um 30 bis 35 Prozent.

Der Abschwung dürfte sich durch die jüngsten Terroranschläge noch beschleunigen. Trotz all der schlechten Nachrichten hat bisher erst ein Autobauer in Berlin um staatliche Hilfe nachgefragt: Opel, der Tochter des nahe an der Zahlungsunfähigkeit operierenden US-Konzerns General Motors, droht ein Liquiditätsengpass. Bei Opel dürfte es auch bleiben. Denn die deutschen Autobauer sind trotz Krise im Kern gesund: „Im Gegensatz zur Krise Anfang der 90er-Jahre sind sie viel besser aufgestellt“, sagt Georg Stürzer, Analyst bei UniCredit.

Damals rutschten bis auf BMW alle Unternehmen in die Verlustzone. Doch flexiblere Produktion, Arbeitszeitkonten und Leiharbeiter machen die Krise leichter beherrschbar. Stürzer: „Im Vergleich zu den US-Herstellern, die täglich Cash verbrennen, sind die deutschen in einer viel stärkeren Position.“ So habe Daimler noch immer eine Bar-Reserve von 6,7 Milliarden Euro, BMW sitze auf 5,4, VW sogar auf 11,7 Milliarden Cash. Zum Vergleich: Fiat hat 3,3 Milliarden Euro Schulden, bei PSA sind es 1,3, bei Renault 3,5 Milliarden. Damit können die deutschen Autobauer die Krise länger überstehen als ihre Konkurrenten.