Fiat plant kein Hilfspaket für Chrysler-Händler

Frankfurt/Berlin. Die deutsche Vertriebsorganisation von Fiat mit dem Vorstandsvorsitzenden Manfred Kantner an der Spitze ist von heute an auch für die Marken Chrysler, Jeep und Dodge des US-Allianzpartners Chrysler verantwortlich. Damit einher geht eine weitreichende strategische Neuausrichtung, die alle Brands der beiden Autohersteller betrifft. Während die italienischen Marken Fiat, Alfa und Lancia von der Erweiterung der Produktpalette mit größeren Fahrzeugen und SUV aus den USA profitieren, wird die US-Marke Chrysler in Europa (außer Großbritannien) zugunsten von Lancia ganz verschwinden und Dodge auf einen Spezialitätenabieter geschrumpft. Allein die Geländewagen-Ikone Jeep soll deutlich gestärkt werden.

Folgen ergeben sich auch für die Chrysler-Vertriebsorganisationen: Der in Berlin ansässige Deutschlandvertrieb wird aufgelöst. Den Mitarbeitern werden neue Verträge in Frankfurt bei Fiat angeboten. Der europäische Großhandel, der mit rund 70 Mitarbeitern in Stuttgart sitzt, wird in die entsprechende Fiat-Organisation in Turin integriert.

In Deutschland und Europa werden binnen eines Jahres die Händlernetze von Lancia und Chrysler verschmolzen. Eine offene Frage ist derzeit, ob Käufer von ur-amerikanischen Autos wie der martialisch daher kommenden Limousine 300 C oder des Großraumvans Grand Voyager den Schwenk zu italienischer Eleganz mit Premiumattitüde akzeptieren. Für die ohnehin geschwächten Chrysler-Händler ist die Neupositionierung wahrscheinlich die letzte Chance.

Der Schritt ist Teil der globalen Strategie des Fiat-Konzerns, der im Bündnis mit dem US-Hersteller Chrysler sein eigenes Überleben sichern will. Fiat-Chef Sergio Marchionne glaubt, dass ein Volumenhersteller künftig ein Absatzvolumen von mindestens sechs Millionen Fahrzeugen braucht, um wettbewerbsfähig zu sein. Deshalb beteiligte sich Fiat vor rund einem Jahr mit 20 Prozent an dem soeben der Insolvenz entronnenen Chrysler-Konzern und übernahm die operative Führung.

Marchionne will nun bis 2014 die beiden Unternehmen eng miteinander verzahnen – durch die Entwicklung gemeinsamer Produkte auf Basis von Konzernarchitekturen und Modulbaukästen sowie durch eine effiziente Produktion und hohe Synergieeffekte über die gesamte Organisation hinweg. Binnen fünf Jahren soll der Absatz auf die angepeilten sechs Millionen Fahrzeuge wachsen und der kombinierte Umsatz von 64 Millionen Euro in diesem Jahr auf 104 Millionen Euro zulegen, während gleichzeitig die operative Umsatzrendite von rund zwei Prozent auf dann fast acht Prozent klettern soll.

Nachdem der Fokus zunächst auf der generellen Strategie und der Ausarbeitung einer gemeinsamen Produktpalette lag, werden nun die Weichen im europäischen Vertrieb gestellt. In Deutschland wurde allen 70 Lancia-Händlern und den 115 Chrysler-Partnern gekündigt, was bedingt durch die Kündigungsfrist zum 1. Juni 2011 wirksam wird. Dem Chrysler-Händlerverband zufolge erhalten rund 80 Prozent der besagten Händler von Fiat Deutschland ein Angebot (Letter of Intent), künftig Lancia in neuer Ausrichtung (Arbeitstitel "New Lancia“) zu repräsentieren. Innerhalb von vier Wochen muss eine Antwort an Fiat erfolgen. Dann kann ein neuer Vertrag geschlossen werden – falls die Vertriebsorganisation der Italiener den Händler will.

"Es ist unsere einzige Chance zu überleben,“ so Chrysler-Händlerverbandssprecher Peter Jakob nach anfänglichen Bauchschmerzen. Chrysler sei seit dem Ausstieg von Daimler auf Raten gestorben und wäre ohne Fiat schon seit 2007 tot, so die Erkenntnis von Jakob. Während Fiat-Chef Kantner auf der Chrysler-Händlertagung in Hanau das neue Geschäftsmodell vorstellte und massiv um ein Engagement der Händlerschaft warb, zerstreute er gleichzeitig etwaige Hoffnungen auf finanzielle Unterstützung durch Fiat: Es sei eine unternehmerische Entscheidung, ob ein Händler die Chancen mit "New Lancia“ wahrnehmen wolle oder nicht.

Das Geschäftsmodell von "New Lancia“ basiert im Wesentlichen auf drei Säulen: Dem Ausbau des Produktportfolios, hohen Synergieeffekten durch gemeinsame Architekturen, Module und Aggregate im Fiat/Chrysler-Konzern sowie einer effizienteren Vertriebsorganisation. Konkret soll die Marke bis 2014 acht neue Modelle erhalten und dann in Europa 61 Prozent des Automobilmarktes abdecken. Heute kommen Lancia und Chrysler aufgrund der eingeschränkten Modellpalette auf 28 beziehungsweise magere neun Prozent – zu wenig um auf Stückzahlen zu kommen, die eine Existenz der jeweiligen Marke rechtfertigt und den Händlern ihr Auskommen sichern kann.

Bis die ersten Modelle an den Start gehen, müssen die Händler aber noch ein Jahr Durststrecke überwinden: Im zweiten Quartal 2011 kommt der Kleinwagen Ypsilon, der allein die Hälfte des "New Lancia“-Absatzes in Deutschland ausmachen soll. Dabei sollen insbesondere die heutigen Chrysler-Händler von dem für sie neuen Segment mit günstigen Preisen und einer jungen Zielgruppe profitieren.

Richtungweisend dürfte die ebenfalls 2011 anstehende Markteinführung des neuen 300 C aus amerikanischer Chrysler-Produktion werden, der dann erstmals mit einem Lancia-Emblem in den Showrooms steht. Die schwere Limousine soll vor allem mit italienischer Finesse im Innenraum aufgewertet werden. Ebenfalls im gleichen Jahr wird der schon längst in die Jahre gekommene Großraum-Van Phedra von Lancia durch den Grand Voyager ersetzt, der wahrscheinlich schon 2014 einen deutlich moderneren Nachfolger erhält. Im Jahr 2013 betritt Lancia dann mit einem Crossover ebenfalls aus US-Produktion ein ganz neues Segment. Spannend dürfte auch eine neue Limousine im D-Segment sein, die Lancia für 2013 plant und die ihrerseits in die USA exportiert und dort als Chrysler verkauft werden soll.

Mit der Neuausrichtung hat hat Marchionne wie immer ambitionierte Absatzziele vorgegeben: Im Jahr 2014 soll "New Lancia“ in Deutschland 41.500 Fahrzeuge verkaufen. Zum Vergleich: Im Jahr 2008 setzte Lancia hierzulande gerade einmal 3573 Pkw ab, Chrysler, Jeep und Dodge kamen zusammen auf 14.524 Einheiten. Neben attraktiven Produkten dürfte ein wichtiger Erfolgsfaktor sein, ob Kantner möglichst viele Chrysler-Händler gewinnen kann oder ob er das für 2014 angestrebte Netz mit 154 "New Lancia“-Händlern mühsam selbst aufbauen muss.

Deshalb will der Fiat-Manager am Liebsten in jeder Verkaufsregion den dort verankerten starken Betrieb mit gut gepflegtem Kundenstamm integrieren. Während die Standards und Investitionen bewusst niedrig gehalten werden, wird den Chrysler-Händlern außerdem der einträchtige Jeep-Vertrieb angetragen. Zudem versprach Kantner, den tiefen Sumpf der Grauimporte trockenzulegen, der den Chrysler-Händlern das Leben extrem schwer gemacht hat.

Im Gegensatz zu "New Lancia“ hat Fiat zur Marke Dodge noch keine konkreten Pläne vorgelegt. Klar ist aber, dass die ur-amerikanische Brand mit den starken Wurzeln in der Ära der Muscle Cars als Nischenanbieter von Performance-Fahrzeugen in Europa überlebt. Unter den früheren Eigentümern sollte Dodge mit dem Kompakten "Caliber“ als Speerspitze zur Weltmarke aufgebaut werden. Nun dürfte der Caliber aus Europa verschwinden und Sportwagen-Ikonen wie der "Viper“ Platz machen.