Analyse - Alarmzeichen bei Daimler

Stuttgart. Der Daimler-Konzern im Jahr 2020: Von rund 150 Milliarden Euro Umsatz (aktuell sind es 100 Milliarden) stammt rund ein Drittel aus Aktivitäten, die heute kaum vorstellbar sind. Die Sparte "Lifestyle + Fun" bietet unter der Marke Mercedes-Benz automobile Luxusreisen an - beispielsweise Geländewagentouren in der Sahara. Bei internationalen Sport- und Showbiz-Events übernehmen die Stuttgarter den Fahrservice. In Kooperation mit Luxusgüterherstellern wie Gucci werden Mercedes-Accessoires nun weltweit in teuren Boutiquen angeboten. Ebenfalls neu ist der Geschäftsbereich "Fuels, Technology, Other", wo Daimler unter anderem das Geschäft mit synthetischem Kraftstoff aus Biomasse gebündelt hat.

Gemeinsam mit Volkswagen werden patentierte Anlagen zur SynFuel-Herstellung verkauft. Mit anderen Partnern bieten die Stuttgarter Brennstoffzellen-Technologie an. Auch die erst vor kurzem verstoßene US-Tochter Chrysler ist wieder in den Daimler-Schoß heimgekehrt. Zwar deutlich kleiner, dafür aber auch wirklich profitabel. Außerdem residiert der Vorstand wieder am repräsentativen Stammsitz in Möhringen, weil zahlreichen Geschäfte und Beteiligungen besser in einer neuen Holding-Struktur zu führen sind statt im engen Hochhaus im Werk Untertürkheim.

Sie halten mich für einen Spinner? Das kann ich Ihnen nicht verdenken. Ein Blick auf die Faktenlage könnte das möglicherweise ändern. Vor zwei Tagen hat Daimler völlig überraschend den Wiedereinstieg bei der einstigen Tochter MTU Friedrichshafen bekannt gegeben. Die Stuttgarter haben rund 22 Prozent an der heutigen, börsennotierten Tognum AG gekauft und streben offiziell eine Sperrminorität an. Begründet wird der Schritt damit, dass ansonsten die Gefahr bestanden hätte, dass der Münchner Konkurrent MAN zum Zuge kommen und damit ein Liefervolumen von rund 460 Millionen Euro jährlich für Daimler verloren gehen könnte. Gleichzeitig wurde die gute Verzinsung der eingesetzten 585 Millionen Euro hervorgehoben, weil die Friedrichshafener überdurchschnittliche Renditen erzielten. Investoren müssen hingegen die Frage stellen, ob Daimler im eigenen Geschäft mit Automobilen keine attraktive Investitionsmöglichkeiten mehr sieht und deshalb sein scheinbar überbordendes freies Kapital in Motoren für Mähdrescher, Panzer und Schiffe sowie dezentrale Anlagen für Energieerzeugung steckt.

Sollte kein strategischer Schritt mit dem Ziel einer Mehrheitsübernahme dahinter stecken, hat sich Zetsche ohne Not ein Risiko aufgehalst, das er operativ kaum beeinflussen kann. Wohin das führt, zeigt regelmäßig die Daimler-Bilanz, die von positiven wie negativen Sondereffekten der 15-prozentigen Beteiligung am Luft- und Raumfahrtkonzern EADS durcheinandergewirbelt wird. Ganz zu schweigen vom 20-Prozent-Anteil an Chrysler, der bisher nur Belastungen gebracht hat. Nicht ohne Grund haben institutionelle Investoren vor kurzem auf der Hauptversammlung den endgültigen Chrysler-Ausstieg gefordert.

Für Zetsche kann es somit nur einen Grund für die Rolle rückwärts bei Tognum geben: Die Wachstumsmöglichkeiten im eigentlichen Kerngeschäft mit Fahrzeugen sind für Daimler begrenzt. Wenn es gelingt, die avisierte Umsatzmarge von neun Prozent zu halten, ist das schon eine große Leistung. Zetsche weiß, dass er den Investoren an der Börse über kurz oder lang eine neue Anlage-Story liefern muss. Nur so lässt sich das Unternehmen mit den Milliarden auf der hohen Kante vor einer Übernahme schützen. Klar ist dabei aber auch, dass die Zukunft von Daimler nicht darin bestehen kann, vermeintlich lukrative Finanzbeteiligungen einzugehen, sondern das Geschäft selbst wertsteigernd auszubauen.

Dass der Umbau des Konzern in Richtung einer größeren Diversifizierung schon längst eingeleitet wurde, zeigt eine weitere Tatsache: Unter dem Namen „Business Innovation“ suchen hochrangige Manager auf Geheiß von Zetsche nach neuen Geschäftsideen (Die Automobilwoche berichtete vor kurzem als Erster darüber.) Ausdrücklich sind dabei auch abenteuerlich scheinende Experimente gewünscht.

In Frankreich beispielsweise erprobt Daimler bereits einen Limousinen-Service. Kenner des Unternehmens rechnen in nicht allzulanger Zeit damit, dass Mercedes ins Reisegeschäft einsteigt. Bereits jetzt ist Daimler gemeinsam mit VW an Choren beteiligt, einem Unternehmen, das mit Erfolg synthetische Kraftstoffe für die Massenherstellung entwickelt. Außerdem haben die Stuttgarter vor einiger Zeit die automobilen Brennstoffzellen-Aktivitäten von Ballard gekauft. All das zusammen ist viel mehr als der Ausbau des Geschäfts entlang der automobilen Wertschöpfungskette, was Daimler kryptisch als neue Strategie herausgegeben hat. Bei Anlegern sollte nun die Alarmglocken schrillen: Es ist an der Zeit, ein Engagement in Daimler-Aktien zu überdenken – im positiven wie negativen Sinne.