Experten wähnen "Schmerzgrenze" bei Rohöl nicht mehr weit entfernt

Hamburg. Einer aktuellen Umfrage der Zeitung "Welt am Sonntag" zufolge erwarten zahlreiche Wirtschaftsexperten ab einem Ölpreis von etwa 120 Dollar je Barrel (159 Liter) negative Auswirkungen auf die Konjunktur. "Ab einer Marke von 120 Dollar wird ein längeres deutsches Wirtschaftswunder gefährdet", schätzt etwa Carsten Brzeski von ING. Insbesondere die weltweit mit höchster Aufmerksamkeit verfolgten Unruhen in Ägypten hatten vergangene Woche den Preis für die Ölsorte Brent wieder über die Marke von 100 Dollar je Barrel steigen lassen. Zuletzt hatte Öl im Oktober 2008 mehr als 100 Dollar gekostet.

Fast alle befragten Experten glauben jedoch, dass die Wirtschaft den aktuellen Preis verkraften kann: "Der Einfluss des Ölpreises wird überschätzt", erklärt gar Joachim Scheide, Konjunkturchef des Kieler Instituts für Weltwirtschaft. Wenn er durch die gute Weltwirtschaft getrieben werde, bedeute dies auch, dass die deutschen Exporte in die ölproduzierenden Länder steigen. "Man muss sich keine Sorgen um die deutsche Konjunktur machen", sagt auch Carsten-Patrick Meier von Kiel Economics. "Mit einem Anziehen des Preises verbessert sich die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands, weil Schwellenländer rohstoffintensiver produzieren."

Gleichwohl sehen etliche der befragten Wirtschaftsexperten einen potenziellen Anstieg des Ölpreises auf 120 Dollar durchaus mit Sorge. Ab dieser Marke rechnen etwa die DZ Bank, die Berenberg Bank oder die NordLB mit negativen Folgen für die Konjunktur. Unicredit-Volkswirt Andreas Rees hält sogar eine noch niedrigere Marke für gefährlich: "Ich glaube, dass die Schmerzgrenze dieses Mal sehr niedrig liegt, bei etwa 110 US-Dollar. Wenn wir dieses Niveau dauerhaft übersteigen, könnten die Kaufkraftgewinne durch den Aufschwung am Arbeitsmarkt schnell aufgefressen werden."

Die Unsicherheiten im weltweiten Rohölhandel werden auch in der deutschen Automobilindustrie wachsam registriert. Zum einen gelten deutsche Autofahrer im internationalen Vergleich als vergleichsweise preissensitiv; anhaltend steigende Öl- und damit Kraftstoffpreise könnten die Nachfrage im Bereich kleiner und verbrauchsgünstiger Fahrzeuge zulasten margenträchtigerer Geländewagen oder Luxuslimousinen schüren. Zum anderen erschweren starke Preisschwankungen beim Rohöl die mittel- und langfristige Planung vieler Autobauer und ihrer Zulieferer. "Neben strukturellen real- und finanzwirtschaftlichen Ursachen leisten auch Spekulanten einen Beitrag zur hohen Volatilität an den Finanzmärkten", ließ etwa VW-Finanzvorstand Hans Dieter Pötsch vor Kurzem konzernintern verlauten. "Ihr erheblicher Einfluss wird am Beispiel des Rohölhandels deutlich: Die Anzahl der spekulativen Geschäfte hat in den vergangenen Jahren so massiv zugenommen, dass mittlerweile nur noch 14 Prozent des Handels mit Rohöl physischer Natur sind", so der Wolfsburger Topmanager. (Mit Material von dpa)