Industrie muss raus aus der Schockstarre

Die Arbeitnehmervertreter der deutschen Autoindustrie sind in Alarmstimmung. Dieselgate und das Vorpreschen von Tesla haben zu einer tiefen Verunsicherung geführt. "Wenn wir uns technologisch abhängen lassen, dann braucht es nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was mit der Beschäftigung geschieht", sagte Daimler-Betriebsratschef Michael Brecht der Automobilwoche und fügte hinzu: "Das Tesla Model 3 war sicher so etwas wie ein Weckruf. Die deutsche Automobilindustrie muss auf jeden Fall mehr Tempo machen, wenn sie im Transformationsprozess vorne mit dabei sein will."

Doch nicht nur Elon Musk sitzt Daimler, BMW & Co. im Nacken, die ganze Industrie ringt seit Monaten mit den Folgen von Dieselgate. "Wir beobachten nach dem Dieselskandal eine gewisse Sprachlosigkeit der Autoindustrie", sagt IG-Metall-Planungschef Frank Iwer.

Eine denkbar schlechte Ausgangslage für den Start in ein Jahr, das für die Autoindustrie zum Schlüsseljahr werden dürfte. Denn 2017 will die Europäische Union entscheiden, in welchen Stufen die Hersteller den CO2-Ausstoß ihrer Flotten nach 2020 reduzieren müssen. Auf dieser Grundlage entscheiden die Autobauer, in welche Technologien sie Milliarden investieren werden.

Die IG Metall will die Zukunft der Branche aber nicht nur der Politik überlassen und hat deshalb in Abstimmung mit den Betriebsräten von Daimler, Volkswagen, BMW und Bosch einen Vorschlag erarbeitet, der der EU-Kommission als Grundlage dienen soll und der gerade in Brüssel präsentiert wurde. IG-Metall-Chef Jörg Hofmann sieht im Vorwort "ausgerechnet in dieser wichtigen Phase die Glaubwürdigkeit der Branche auf dem Tiefpunkt angelangt".

Es gibt dringenden Handlungsbedarf, den man in einem Strategiepapier zusammengefasst hat. Kernforderung ist eine CO2-Reduzierung beim Verbrenner von 1,5 Prozent pro Jahr von 2020 bis 2030. Bis 2020 müssen die Hersteller in Europa den CO2-Ausstoß ihrer Flotten auf 95 Gramm pro Kilometer gesenkt haben. Gleichzeitig soll der Anteil an Elektrofahrzeugen beim Neuwagenverkauf um mindestens einen Prozentpunkt pro Jahr wachsen, ausgehend von fünf Prozent im Jahr 2020.

Erfüllen die Hersteller die Mindestanforderung des IG-Metall-Vorschlags, wäre eine weitere Verringerung bis auf 72 Gramm CO2 im Jahr 2030 möglich. Im optimistischen Szenario wächst der Anteil der Elektroautos pro Jahr um drei Prozentpunkte. Dann wären sogar 50 Gramm in Reichweite.

Die IG Metall sieht ihren Plan als anspruchsvoll, aber machbar. "Wenn wir nicht das Vertrauen in unsere Unternehmen hätten, dass sie das schaffen können, dann hätten wir ohnehin verloren", sagt Brecht. Fachleute halten beim Verbrennungsmotor eine Effizienzsteigerung von maximal 20 Prozent für möglich. Gegen Ende steigen die Kosten allerdings so stark an, dass sich Neuentwicklungen kaum noch lohnen. Dies gilt vor allem für günstigere Fahrzeuge der Kompaktklasse.

Der in dem Papier enthaltene Fünf-Punkte-Plan der IG Metall sieht außerdem vor, dass sich die Autobauer dazu verpflichten, ab dem Jahr 2018 in allen Fahrzeugsegmenten "nicht nur Benzin oder Diesel, sondern auch einen E-Antrieb oder entsprechende CO2-reduzierte Antriebe anzubieten". Die meisten Autobauer planen aber erst ab 2019 eine breit angelegten Elektrooffensive.

Um den Diesel als Übergangstechnologie zu erhalten und sauber zu machen, sollen alle Neumodelle zudem ab 2018 mit Speicherkat oder SCR-Technologie aus-gestattet sein. Enthalten ist auch die Zustimmung zur blauen Plakette für die Umweltzonen der Städte – allerdings mit einer Übergangsfrist für Autos der Schadstoffklasse Euro 5.

Viele Käufer hätten sich diese Autos in den vergangenen Monaten angeschafft, im Vertrauen auf einen Erhalt des Restwerts. Die Autoindustrie solle sich zudem um mehr Transparenz bemühen, fordert die Gewerkschaft. Verbrauchsangaben müssten "auf Basis von realistischen und nachvollziehbaren Annahmen" erfolgen. Um die Elektrooffensive zu beschleunigen, drängt die IG Metall auf staatliche Investitionen mit Beteiligung der Industrie in eine europäische Ladeinfrastruktur. "Viele Fragen wie Flächennutzung oder Stromanbindung sind hier noch nicht geklärt", so Iwer.

Mit dem 40-seitigen Strategiepapier wollen die Arbeitnehmervertreter die Verteidigungshaltung ablegen und das Heft selbst in die Hand nehmen. Seit Monaten bestimmen immer neue Anschuldigungen der Umweltverbände wegen möglicher Manipulationen bei der Abgasreinigung sowie drohende Fahrverbote in Städten und Forderungen nach einem Aus des Verbrennungsmotors im Jahr 2030 die öffentliche Debatte. Jetzt soll die Branche raus aus der Schockstarre.

"Wir laden mit diesem Positionspapier Betriebsräte und Beschäftigte, Unternehmen und -Geschäftsführungen, Umweltverbände und Wissenschaft sowie die Politik in Regionen, Bund und EU ein, mit uns in die Diskussion um die Gestaltung des Strukturwandels der deutschen und europäischen Automobilindustrie einzusteigen", schreibt Hofmann im Vorwort.

Daimler sieht sich für die Herausforderungen bei CO2-Grenzwerten gerüstet. "Wir haben eine dreigleisige Strategie", sagt Daimler-Entwicklungschef Thomas Weber. "Wir machen die Verbrennungsmotoren effizienter, bauen unser Angebot an Plug-in-Hybriden aus und starten mit dem EQ eine Elektrooffensive." Wichtig sei bei den CO2-Zielen ein weiterer Zeithorizont, ergänzt eine Daimler-Sprecherin. "Diesen brauchen wir, um unsere Investitionen verlässlich zu planen."