Stuttgart. Die Euphorie von Daimler-Chef Dieter Zetsche scheint derzeit grenzenlos: "Das Jahr 2010 könnte eines der besten Jahre in der Geschichte des Automobils werden.“ Nach zwei Jahren Krise boomt vor allem der Absatz von Premiumautos. Im Juni verzeichnete Mercedes ein Rekordvolumen von 113.300 Auslieferungen. Auch die Konkurrenten BMW und Audi legten kräftig zu. Weltweit erholt sich die Autoindustrie vor allem aufgrund der starken Nachfrage in China viel schneller, als selbst die wagemutigsten Experten vorhersagten. Krise vorbei, Kurzarbeit beendet, wir kehren zur Tagesordnung zurück und produzieren, was das Zeug hält? Mitnichten.
Zerreißprobe
"Die automobile Wertschöpfungskette droht zu zerreißen, weil die Zulieferer als schwächstes Glied durch die Krise an Substanz verloren haben und sie durch verschiedene Entwicklungen in die Zange genommen werden“, sagt Siegfried Frick, Geschäftsführer von Deloitte & Touche Corporte Finance. Auf der einen Seite zerren die altbekannten strukturellen Probleme, die durch die Krise noch verstärkt wurden: Selbst in guten Jahren können viele Zulieferer aufgrund des enormen Preisdrucks durch die Autohersteller kaum genug Geld verdienen, um Reserven für schwierige Zeiten aufzubauen. In der Krise sind sie ausgeblutet, das Eigenkapital ist abgeschmolzen. Von 1000 untersuchten Mittelständlern ist mehr als die Hälfte praktisch nicht kreditwürdig (siehe Grafik). Auf der anderen Seite sorgen neue Rahmenbedingungen wie hohe Investitionen in neue Technologien, der Aufbau von Auslandskapazitäten und der konjunkturelle Hochlauf für starken Zug: Die Unternehmen brauchen neue Finanzmittel. "Die Zeiten des billigen Geldes sind allerdings vorbei“, sagt Banken- und Ratingexperte Ottmar Schneck.
Die weltweite Autoindustrie bietet ein verwirrendes Bild: Viele Hersteller und Zulieferer fahren praktisch aus dem Stand von der Kurzarbeit in den Dreischichtbetrieb hoch. Während bereits wieder Leiharbeiter beschäftigt werden, laufen gleichzeitig noch die zuvor initiierten Sparprogramme mit Personalabbau. Nach einem Rekordverlust von über 1,1 Milliarden Euro im vergangenen Jahr beteiligt der finanziell üppig ausgestattete Zulieferer Bosch die Mitarbeiter des weltweit größten Werks in Feuerbach an den Kosten der Kurzarbeit und verzichtet dafür bis 2013 auf betriebsbedingte Kündigungen. Im Jahr 2012 – so hofft die Branche – gibt es wieder genügend Aufträge, um die heute brachliegenden Kapazitäten wieder auszulasten. Was gerade in der deutschen Politik und Öffentlichkeit für Jubel gesorgt hat, könnte sich jedoch als schwer lastende Hypothek erweisen. Trotz der Krise wurden weltweit kaum Überkapazitäten abgebaut. Diese belaufen sich noch immer auf 40 Prozent, schätzte jüngst Daimler-Personalvorstand Wilfried Porth.
Abgas- und Heizungsspezialist Eberspächer verzeichnete 2009 zum Beispiel einen um Sonderfaktoren bereinigten Umsatzeinbruch von 30 Prozent. Inklusive Leiharbeiter wurden die Kapazitäten aber nur um zehn Prozent abgebaut – obwohl man im Familienunternehmen glaubt, den Vorkrisenumsatz erst in zwei Jahren wieder zu erreichen. Dass die Zulieferer ihre Probleme aber kaum selbst lösen können, steht für praktisch alle Branchenexperten fest. Entscheidend wird sein, ob die Hersteller ihre seit Jahrzehnten praktizierte Politik über Bord werfen. Bislang haben sie eine notwendige Konsolidierung der Zulieferbranche erfolgreich verhindert: In der Krise bewahrten sie ihre Lieferanten nach Branchenschätzungen mit rund zwei Milliarden Euro vor dem Zusammenbruch. Wie lange lässt sich das noch durchhalten?
"Die Belieferungsprobleme werden drastisch zunehmen, wenn die Hersteller ihre Einkaufspolitik nicht ändern“, betont Frick. "Sie müssen akzeptieren, dass die Zulieferer ihre Kapitalkosten sowie auskömmliche Renditen erwirtschaften müssen.“ Offenbar ist, dass der Blick für die neuen Realitäten in der IG Metall viel schärfer zu sein scheint als in vielen Geschäftsführerbüros des Mittelstands: Für manchen Zulieferer sind die mittelfristigen Perspektiven nicht klar. Der Streit um stabile Wertschöpfungsketten oder der Austausch gegen Billig-Lieferanten bekommt eine neue Dynamik, vor allem weil die Unternehmen zurück zu alten Renditeniveaus wollen, heißt es in einem Positionspapier der Gewerkschaft. Was auf die Zulieferer zukommt, zeigt ein einfaches Beispiel: Im Krisenjahr 2009 hat Daimler rund 600 Millionen Euro an Materialkosten gespart. Bis 2013 will Daimler-Chef Zetsche erstmals die Traumrendite von zehn Prozent mit der Pkw-Sparte schaffen – und dazu die Einkaufskosten weiter senken.