Prag. „Wir haben in den vergangenen zehn bis 15 Jahren eine enorme Verlagerung der Automobilproduktion von West- nach Osteuropa erlebt“, konstatiert Stefan Bratzel von der Fachhochschule der Wirtschaft in Bergisch Gladbach. Während mit Ausnahme von Deutschland in allen westeuropäischen Ländern die Produktion zum Teil enorm gesunken ist, weisen die osteuropäischen Länder enorme Zuwächse auf, so Bratzel weiter: „Und durch den Beitritt zur EU sind diese Standorte für die Autoindustrie noch einmal deutlich attraktiver geworden.“ Volkswagen in Bratislava, Hyundai in Nošovice, Kia in Zilina, Audi in Györ, Mercedes in Kecskemét, Fiat in Tychy, Renault in Slowenien, Ford in Rumänien, Opel in Polen – mittlerweile zählen die Berater von Roland Berger in Osteuropa 15 ausländische Autobauer mit etwa zwei Dutzend Werken, die auf eine Kapazität von über drei Millionen Fahrzeugen im Jahr kommen. Laut Roland Berger sind die Werke auf Wachstum programmiert: Bis 2015 rechnen die Experten mit einem Plus von mehr als fünf Prozent.
Erfolg auf halber Linie
Im Windschatten der Fahrzeughersteller haben sich auch die allermeisten Zulieferer auf den Weg in den Osten gemacht: „Wer etwas auf sich hält, braucht dort eine Dependance“, sagt Automobilwirtschaftler Ferdinand Dudenhöffer. In Ländern wie Russland ist die lokale Produktion unumgänglich, wenn man hohe Importzölle vermeiden will. Doch in der Regel sind es gewaltige Kostenvorteile, die für den Osten sprechen: „Trotz teilweise starker Lohn- und Preiserhöhungen in diesen Ländern ist aufgrund der niedrigen Lohnbasis auch langfristig ein deutlicher Kostenvorteil für das produzierende Gewerbe gegeben“, sagt Andreas Radics von der Strategieberatung Berylls. Kostet die Arbeitsstunde nach einer Statistik Dudenhöffers in Deutschland 46,80 Euro, sind es in der Slowakei 9,00, in Ungarn 7,30 und in Rumänien 4,50 Euro. Zudem gibt es in diesen Ländern viele hoch qualifizierte Facharbeiter, die seltener streiken – „ein weiterer unschätzbarer Pluspunkt für diese Standorte“, sagt Automobilwirtschaftler Franz-Rudolf Esch von der EBS Business School in Wiesbaden. O werde jedoch ein weiterer Faktor vergessen, sagt Berylls- Analyst Radics: die hohen Wochenarbeitszeiten. So leiste ein rumänischer Arbeiter im Vergleich zu einem deutschen zehn bis 15 Prozent mehr Arbeitsstunden. „Diese Kombination aus Lohnkosten und Arbeitszeit bietet den Westeuropäern im Osten signifikante Kostenvorteile.“ Glaubt man Experten wie Radics, geht der Trend mittlerweile weit über die Produktion hinaus: „Seit 2010 verzeichnen wir vermehrt den Aufbau von Overhead- Strukturen und Competence- Centern in Osteuropa.“ Einfache unterstützende Funktionen wie Einkauf, Controlling und Reporting würden in Billiglohnländer verlagert, erste Entwicklungsaufgaben folgten auf dem Fuß.
So sehr die Produktion in Osteuropa boomt, so verhalten wächst der Absatz: „Die Märkte liegen deutlich hinter den Erwartungen der Autohersteller. Das Konzept der lokalen Fertigung zur Erschließung der Märkte ist nicht aufgegangen“, urteilt Radics und verweist auf die Neuzulassungen. Mit zum Beispiel 1,7 Millionen Fahrzeugen in Tschechien, 2,7 Millionen in Polen oder 0,7 in der Slowakei kommen die neuen EU-Mitglieder zwar im Jahr 2012 zusammen auf knapp 7,5 Millionen Zulassungen. Doch während in Deutschland im vergangenen Jahr pro 1000 Einwohner etwa 40 Neuwagen verkauft wurden, waren es etwa in Ungarn nur fünf. Und die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung im Osten Europas deute kurz- und mittelfristig nicht auf eine nachhaltige Besserung hin, ist Berylls-Analyst Radics überzeugt: „So werden die osteuropäischen Länder mit Ausnahme von Russland absehbar eher Produktions- als Absatzländer mit signifikanten Stückzahlen bleiben.“