Strassburg/Wien. Männer wie sie sind gemeint, wenn Daimler-Entwicklungsvorstand Thomas Weber fordert, über neue Grenzwerte dürfe nicht „politisch“ entschieden werden, stattdessen solle „wissenschaftlicher Sachverstand“ walten. Überhaupt, so Weber zwei Tage später beim Wiener Motorensymposium, sei die Industrie derzeit darauf fokussiert, ab 2020 den Flottengrenzwert von 95 Gramm pro Kilometer zu erfüllen. Über strengere Grenzwerte solle daher erst ab 2017 diskutiert werden. Unterstützt wurde seine Argumentation von Volkswagen- Chef Martin Winterkorn. Es sei schlichtweg „Unsinn“, jetzt schon über neue Limits zu reden. Doch was bringt die Autobosse so in Rage? Auf der Suche nach einer Antwort muss man sich zunächst durch das von Ulmer verfasste Kompromisspapier mit der amtlichen Bezeichnung PE500. 598v03-00 quälen. Es enthält die abgestimmten Änderungswünsche des Umweltausschusses zu einem neuen Richtlinienentwurf der Europäischen Kommission. Dieser behandelte ursprünglich nur die Festschreibung des 95- Gramm-Grenzwerts für 2020. Nun findet sich gleich im ersten Artikel der Satz: „Von 2025 an setzt diese Richtlinie ein Ziel für neu zugelassene Fahrzeuge in einer Bandbreite von 68 bis 78 g CO2/ km.“ Dieses Ziel soll bis 2017 konkretisiert und unter wirtschaftlichen Aspekten überprüft werden.
ACEA und VDA lehnen dieses Vorgehen übereinstimmend ab. Ungewöhnlich ist es allerdings nicht: Auch in der 2009 verabschiedeten Richtlinie, die den 130-Gramm-Zielwert für 2015 definierte, waren bereits 95 Gramm für das kommende Jahrzehnt angekündigt, zu überprüfen im Jahr 2013. Aus Sicht der Automobilindustrie enthält die vom Umweltausschuss verabschiedete Kompromissfassung einen Katalog weiterer Grausamkeiten. So soll die Messung der CO2-Emissionen bereits 2017 nach einem neuen Testzyklus, der „World Light Duty Test Procedure“ (WLTP) erfolgen. Dieser Testzyklus soll die im realen Verkehr auftretenden Emissionen besser abbilden als der derzeit verwendete NEFZ. Gerade effiziente Downsizing-Motoren würden dadurch nominal höhere Emissionswerte ausweisen. Die Crux: Der neue Zyklus ist noch gar nicht endgültig verabschiedet, ursprünglich sollte er erst nach 2020 zum Einsatz kommen.Streit gibt es zwischen Brüssel, Straßburg und Berlin zudem in der Frage der Supercredits. Gemeint ist, mit welchem Faktor Hersteller künftig den Verkauf besonders emissionsarmer Fahrzeuge gewichten dürfen. Im Vorschlag des Umweltausschusses ist nun definiert, dass jedes Auto, das weniger als 50 Gramm CO2 je Kilometer ausstößt, ab 2014 zweieinhalbmal und von 2016 bis 2023 nur noch anderthalbmal gezählt werden darf. Zudem soll der maximale Einfluss der Supercredits auf den gesamten Flottenverbrauch 2,5 Gramm betragen. Die Autohersteller und auch die Bundesregierung hatten sich für deutlich höhere Faktoren ohne Kappungsgrenze eingesetzt. Eine kleine technische Revolution findet sich in der Richtlinienüberarbeitung auch: Ab 2020 soll bei der Berechnung der herstellerspezifischen Grenzwerte nicht mehr nur die Masse, sondern alternativ auch die Aufstandsfläche eines Fahrzeugs berücksichtigt werden. Fahrzeugtechniker diskutieren seit Langem darüber, ob die Aufstandsfläche nicht das bessere Maß darstellt, da eine solche Regelung Leichtbaumaßnahmen besonders belohnt. Zunächst müssen sich nun Ministerrat und Parlament auf eine gemeinsame Textfassung einigen. Das wird vermutlich noch vor der Sommerpause der Fall sein. Ob die besonders umstrittene Passage zum 2025er-Wert diese Diskussion übersteht, ist noch offen. Zwei zu eins stünden die Chancen, schätzt Ulmer, der gerne etwas weniger strenge Grenzwerte durchgesetzt hätte. „Das war leider der äußerste Kompromiss.“ VDA-Präsident Matthias Wissmann gibt sich hingegen schon jetzt siegesgewiss. Der Grenzwertkorridor werde nicht kommen. Der Jurist Wissmann fordert eine technische Überprüfung der Ziele und wirft dem Wirtschaftsingenieur Groote vor, die Physik nicht im Blick zu haben.Auf die Frage, ob und wie die technische Umsetzung neuer CO2-Ziele möglich wäre, gab Bosch-Chef Volkmar Denner bei seinem Eröffnungsvortrag zum Wiener Motorensymposium eine indirekte Antwort, obwohl er offiziell nur über die Grenzwerte für 2020 sprach. Sehr systematisch analysierte er nacheinander das Verbrauchssenkungspotenzial von Otto- und Dieselmotoren für verschiedene Fahrzeugklassen. Kleinwagen können demnach mit modernster Dieseltechnik schon in wenigen Jahren etwa 68 Gramm erreichen, die Golfklasse etwa 85 Gramm. Zwei-Tonnen-SUVs haben hingegen schon 2020 ohne Elektrifizierung keine Chance mehr, die gewichtsspezifischen Grenzwerte zu erreichen, Diesel- Hybriden oder Plug-in-Benzinern gehört die Zukunft. Bei Plug-in-Hybriden handelt es sich nicht um ferne Zukunftsvisionen, sondern um Fahrzeuge, die schon bald im Handel stehen werden.Den Auftakt macht dieses Jahr Porsche mit dem Panamera E-Hybrid, der bei einer Systemleistung von mehr als 300 Kilowatt einen CO2-Ausstoß von 71 Gramm aufweist. Aufpreis für den Kunden: 10.000 Euro, das sind rund zehn Prozent des Fahrzeugpreises. In den unteren Fahrzeugklassen sind solche Kosten nicht zu verdauen. Winterkorn präsentierte daher in Wien eine andere mögliche Lösung: Einen „High- Performance“-Diesel, der mit einer Leistungsdichte von 100 Kilowatt je Liter Hubraum auf einem Niveau liegt, das noch vor zwei Jahrzehnten einem Porsche Turbo vorbehalten war. Der technische Aufwand ist enorm, so steigt der Einspritzdruck auf bis zu 3000 Bar, zusätzlich zum Turbolader kommt ein elektrischer Kompressor zum Einsatz. Das technische Wettrüsten in der Automobilindustrie würde also durch neue Grenzwerte weiter verschärft. Kleinere Hersteller dürften daher künftig vermehrt Kooperationen für die Antriebsentwicklung eingehen, schrieb Professor Lutz Eckstein, RWTH Aachen, 2012 in einer Studie für das Bundeswirtschaftsministerium. Ausdrücklich werden Kooperationen zwischen Herstellern und Zulieferer angesprochen, wie sie PSA kürzlich mit Bosch zur Entwicklung eines Hydraulik- Hybriden eingegangen ist. Ganz neu erscheint zumindest das 78-Gramm-Ziel ohnehin nicht. Umgerechnet entspricht es einem Verbrauch von etwa 3,3 Liter Benzin oder 2,9 Liter Diesel auf 100 Kilometer. Es war kein Politiker, sondern ein begnadeter Ingenieur, der dieses Ziel zuerst ins Spiel brachte. 1992 veröffentlichte Ferdinand Piëch einen Fachaufsatz, der damals für ungläubiges Staunen sorgte. Piëchs Arbeit trägt den Titel: „3 l/100 km im Jahr ?“Katalog der Grausamkeiten
Matthias Groote und Thomas Ulmer sind Abgeordnete des Europaparlaments. Kaum jemand kennt sie, und doch beeinflussen sie die Geschicke der europäischen Automobilindustrie. Der eine, Groote, Mitglied der Sozialdemokraten, ist nach eigener Aussage "für Niedersachsen in Europa“ und leitet den Umweltausschuss in Straßburg, der am 24. April neue CO2- Grenzwerte für das Jahr 2025 vorgeschlagen hat. Der andere, Ulmer, Christdemokrat aus dem Autoländle Baden-Württemberg, ist Berichterstatter des Parlaments zum Thema.