Der Marken- und Kommunikationsexperte Franz-Rudolf Esch sprach angesichts der Genf-Premieren von BMW Zweier Active Tourer, Citroën C4 Cactus und Renault Twingo mit der Automobilwoche über diese „Tabubrecher“ und die damit verbundenen Chancen und Risiken für die betreffenden Automarken.
BMW, Citroën und Renault stellen in Genf vergleichsweise radikale Autokonzepte vor. Welche Firma ist aus Ihrer Sicht am mutigsten?
Franz-Rudolf Esch: Ich interpretiere „mutig“ so, dass man mit den neuen Autokonzepten entweder für die Industrie oder die Automobilmarke radikal neue Wege geht, seine Marke bewusst weit dehnt, oder völlig neue Zielgruppen anspricht. Deshalb finde ich den Schritt von BMW zum Frontantrieb am mutigsten. Sportlichkeit, Dynamik und Freude am Fahren sind in den Genen der bayerischen Marke bislang konzeptionell mit dem Heckantrieb verbunden, deshalb ist die Herausforderung groß, diese markentypischen Werte auch beim Frontantrieb zu liefern. Zudem spricht man mit diesem Automodell auch neue Zielgruppen an. Anders sehe ich dies bei Citroën und Renault: Diese haben ihre Produkt- und Designstrategien ebenso wie ihre Markenansätze in den vergangenen Jahren so oft geändert, dass eine weitere Änderung niemanden mehr überraschen sollte. Das Image ist ohnehin diffus, es sind schwache Marken. Insofern hält sich das aus den neuen Konzepten resultierende Risiko für diese Marken in Grenzen. Der Twingo ist wenig mutig, es ist eine neue Modellgeneration mit anderem Antrieb, den man aus Synergieeffekten mit dem Smart gemeinsam nutzt.
Citroën stellt mit dem C4 Cactus das bislang übliche Wachstums- und Leistungsdogma der Autoindustrie auf den Kopf. Eine kluge Entscheidung?
Man könnte dies auch anders sehen. Man interpretiert ein Konzept, das mit dem liebevoll als “Ente“ bezeichneten Modell 2CV früher schon gemacht wurde und stellt ein nützliches, auf das Wesentliche reduzierte, günstiges Automodell vor. Renault hat mit Dacia gezeigt, dass es dafür klar einen Markt gibt. Heute hilft Dacia Renault. Zudem ist die Luft nach oben dünn und durch starke Marken besetzt. Hier kann Citroën mit dem schwachen Markenimage und dem unscharfen Markenprofil kaum reüssieren. Im Übrigen wird sich der Markt weiter polarisieren: Die einen kaufen günstige und einfache Fortbewegung, was Marken wie Hyundai und Dacia begünstigt. Das Prinzip ist: von A nach B kommen. Die anderen kaufen Image und Prestige. Wer zwischen diesen Stühlen sitzt, hat künftig ein Problem. Insofern muss sich Citroën entscheiden, wo man die Marke künftig sieht und was dies für die Modellpolitik bedeutet. Aus meiner Sicht kann der Cactus eher reüssieren als Modelle im gehobenen Bereich, wie der schwache Abverkauf des C6 zeigt. Zudem ist das Dogma nicht mehr so stark wie es einmal war. Die Hersteller reagieren in ihrer Modellpolitik auf geänderte Kundenbedürfnisse, vor allem in Metropolregionen, und füllen die durch das stetige Wachstum entstandenen Lücken mit Fahrzeugen, die außen relativ klein sind, aber den Innenraum sehr gut nutzen. Der BMW i3 gehört schließlich auch in diese Kategorie. Klein kann in Metropolen ganz groß ankommen. Parkplatzmangel und mehr Flexibilität begünstigen ja auch nicht zuletzt das Carsharing, das großenteils auf Kleinfahrzeuge setzt.
Renault stellt den neuen Twingo auf Heckmotor und -antrieb um, analog zum Smart, mit dem sich das Auto künftig die Technik teilt. Wird damit der nicht Synergiegedanke übertrieben?
Zunächst einmal möchten Daimler und Renault Synergien schöpfen. Das ist aus Kostengründen nachvollziehbar, weil man hier durch weitgehend identische Plattformen große Vorteile erzielen kann. Ob das Auto den Motor und Antrieb im Heck oder vorne hat, spielt zudem in dieser Kategorie für den Kunden keine Rolle. Wichtig ist, wie sich das Auto fährt, ob es wenig verbraucht und klein und handlich ist und sich dadurch die Funktionalität (mehr Stauraum) erhöht. Das sind wesentliche Bedürfnisse der Kunden. Warum sollte man also hier keine Synergien nutzen, wenn man dadurch Kosten spart? Problematisch wird es allerdings dann, wenn sich die Autos in ihrem Design und Charakter so annähern, dass die Marken verwässern. Hier muss man auf eine markenspezifische Differenzierung achten. Die Frage stellt sich besonders für Smart, da hier die Gefahr einer Verwässerung durch Kooperationen tendenziell größer ist. Daimler sollte aus den Erfahrungen mit dem Citan aber gelernt haben. Entscheidend ist somit, wie unterschiedlich die beiden Produkte aus der Konsumentenperspektive ausfallen werden.
Ein BMW mit Frontantrieb galt stets als Tabu – mit dem Zweier Active Tourer wird es gebrochen. Welches Risiko bedeutet das für BMW?
Wer sich nicht bewegt stirbt, das sieht man an Nokia und der Handysparte von Nokia. Die Marktanforderungen ändern sich, die Kundenbedürfnisse ändern sich, die Technologie ändert sich, also müssen sich auch Marken mit ihren Angeboten anpassen. Märkte zu verschlafen, wie dies der französischen Automobilindustrie mit dem SUV-Markt unterlaufen ist, kann sich BMW nicht leisten. Insofern geht es primär darum, neue Modelle aus zwei Perspektiven zu denken und zu entwickeln: aus Sicht der Markenwerte, weil diese der Erfolgsgarant der Marke sind, und aus Sicht der Kundenbedürfnisse der Zielgruppen, die man mit einem Angebot adressieren möchte. Also ist doch die Kernfrage: Kann BMW Sportlichkeit und Dynamik sowie Freude am Fahren auch mit einem Frontantrieb gewährleisten? Die Bezeichnung „Active Tourer“ legt nahe, dass man dies vorhat. In einer sich schnell drehenden Welt muss man regelmäßig alles in Frage und auf den Prüfstand stellen. Es darf keine Denkbarrieren und Tabus geben, mit einer Ausnahme: Die Markenwerte müssen beachtet werden, weil Kunden keine Produkte, sondern Marken kaufen – und zwar solche mit klarem Profil.
Ist der Zweier Active Tourer schon zu weit vom Markenkern BMW entfernt?
Das Design des multifunktionalen Raumkonzepts passt hundertprozentig in die Formensprache der Marke. Ob und wie weit er sich er sich vom dynamischen Markenkern entfernt, hängt davon ab, wie er sich fährt, ob die Markenwerte auch beim Fahren erlebbar werden und welchen funktionalen Nutzen er dann konkret bietet. Dies hat BMW auch beim i3 geschafft, wo sowohl eine völlig neue Antriebstechnik, mit Carbon ein neues Material und ein neues Design umgesetzt wurden. Insgesamt sollte man den Schwenk zum Frontantrieb für einige Baureihen nicht überbewerten: BMW ist sowohl mit diesem Auto als auch dem anderen Highlight der Messe, dem bildschönen Vierer Gran Coupé, auf bestem Wege zum Erfolg. Und denken sie an Porsche: Wie groß war dort bei den Fans der Aufschrei, als man von dem luftgekühlten auf den wassergekühlten Motor umgestellt hat. Heute kräht kein Hahn mehr danach, weil der neue 911 wie der letzte luftgekühlte die gleichen Markenwerte vermittelt.
Woher werden eigentlich die Kunden für diese für die Marken untypischen Modelle kommen?
BMW kann eine Erweiterung der Zielgruppe schaffen, weil die Marke attraktiv ist, es aber bislang kein solches Angebot gab. Somit können dies Kunden sein, die gerne BMW fahren würden, denen aber das Produktkonzept gefehlt hat. Ebenso wäre das Modell als Zweitwagen für die BMW-affine Familie denkbar, teilweise womöglich auch als Touring-Ersatz. Meines Erachtens ändert sich bei Renault die Zielgruppe im Vergleich zum alten Twingo nicht, warum auch? Das Konzept bleibt ja im Kern ähnlich. Citroën richtet sich sicherlich an urbane Nutzfahrer, die Wert auf Funktionalität bei einem günstigen Preis legen. Sowohl Citroën als auch Renault fehlen allerdings die durchschlagenden USPs, um neue Kunden zu anzuziehen. Sie ziehen auch nicht durch ihre Markenkraft an, sondern glänzen eher durch Markenschwäche.
Abgesehen vom erhofften Verkaufserfolg – welche ökonomischen Überlegungen stecken hinter den Paradigmenwechseln bei Citroën, Renault und BMW?
Bei Citroën geht es um die Reduktion auf das Wesentliche wie damals beim 2CV sowie um die Generierung neuer, unkonventioneller Kundengruppen. Bei Renault geht es um Nutzung von Synergien und Kostensenkungen durch Baukastensysteme und Vereinheitlichung sowie um das Anknüpfen an bisherige Erfolge, was nicht einfach wird. Bei BMW geht es um die Gewinnung neuer Käuferschichten, die man bislang nicht oder nur unzureichend bedienen konnte, sowie um die Nutzung von Synergien mit Mini und der neuen Einser- /Zweier-Baureihe.
Wie weit lässt sich eine Angebotspalette ausdehnen, ohne dass das Markenimage Schaden nimmt?
Wenn kein klares Markenprofil existiert, können Sie im Kern anbieten, was Sie wollen. Es verschlechtert die Lage nicht, kann aber bei einem Glückstreffer die Lage verbessern. Besser wäre natürlich auch dann, wenn man sich für einen markenstrategischen Pfad zur Stärkung der Marke entscheidet und sich dann konsequent mit der Modellpolitik darauf ausrichtet. Schließlich treiben die Automodelle wesentlich das Markenimage. Bei profilierten Marken gilt es hingegen, die Markenwerte in jedem Modell kunden- und bedürfnisrelevant zu definieren. Ist dies nicht möglich, hat man die Grenze der Markendehnung erreicht. Weitere Modelle würden dann der Marke schaden.
Ihre Prognose bitte: Wie werden die drei Modelle einschlagen?
Der BMW sehr gut, weil die Marke so stark ist und dieses Segment bisher kaum hochwertig bedient wurde (Audi und Mercedes bieten derzeit nichts exakt Vergleichbares). Twingo deshalb gut, weil es ein Massenmodell für Frankreich ist. Der Cactus ist am ehesten mit dem Kia Soul vergleichbar. Das Design ist zu mutig und wird vor allem urbane Individualisten ansprechen, die wenig Wert auf das Markenimage legen. Hier ist die Akzeptanz in Frankreich wesentlich.
Welche weiteren Tabubrüche wären in der Autoindustrie wünschenswert?
Die deutsche Automobilindustrie ist zwar sehr erfolgreich, aber noch zu stark in traditionellen Denkmustern verhaftet. Doch wie heißt es so schön: Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann. Ich würde mir wünschen, dass man mehr in Mobilität und weniger in Automodellen denkt. VW muss sich schon fragen, warum alle über die i-Modelle von BMW reden, aber niemand über das vorgestellte Elektroauto von VW. Gute Autos bauen ist notwendig, es reicht aber heute nicht mehr aus: Gesamtkonzepte sind gefragt. Für mich gehört auch dazu, dass man von anderen Branchen lernt. Ein Blick auf Unternehmen wie IKEA, Google, Amazon oder Apple würde gut tun und Impulse geben. Schließlich gibt es auch eine Fülle von Themen, für die man Lösungsansätze benötigt, bei denen man Vieles in Frage stellen muss: sei es Connectivity, offene Kooperationen mit IKT-Unternehmen, der Vertrieb durch das Internet, voll-modulare Antriebskonzepte bis hin zu multimodalen Mobilitätskonzepten, um nur wenige Beispiele zu nennen.