Bei autonomen Fahrsystemen gibt es ein weitgehend unerforschtes Sicherheitsrisiko. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Prüforganisation Dekra gemeinsam mit der TU Dresden. Die Ergebnisse liegen der Automobilwoche exklusiv vor. Hintergrund ist Paragraph 1b des Straßenverkehrsgesetzes. Dieser besagt, dass Fahrer sich bei Nutzung hoch- oder vollautomatisierter Fahrfunktionen zwar vom Geschehen abwenden dürfen, dabei aber "derart wahrnehmungsbereit" bleiben müssen, dass sie "jederzeit" wieder die Kontrolle übernehmen können.
Kritische Sekunden beim autonomen Fahren
Eine Studie von Dekra und der TU Dresden hat eine Sicherheitslücke beim autonomen Fahren entdeckt. In bestimmten Situationen ist rechtzeitiges Eingreifen zwar nötig, aber kaum möglich.
Das aber ist faktisch nicht möglich. "Wenn ein Mensch sich nicht aktiv in der Rolle des Fahrers befindet, dauert es einige Sekunden, bis er sich einen Überblick verschafft hat und auf die Situation reagieren kann", sagt Thomas Wagner, Verkehrspsychologe und Leiter der Begutachtungsstellen für Fahreignung bei Dekra. Autonome Fahrsysteme geben Fahrern daher mehrere Sekunden Vorwarnzeit, bis diese die Kontrolle übernehmen müssen. Entfällt jedoch die Vorwarnzeit, weil etwa das System ausfällt oder eine Gefahr nicht erkennt, gelingt es den Fahrern in den meisten Fällen nicht, rechtzeitig zu reagieren.
Das konnten Dekra und die TU Dresden mit ihrer Studie belegen. Für diese ließen die Forscher 90 Probanden einen Rundkurs in einem autonomen Auto absolvieren. Ein Teil der Probanden hatte den Auftrag, die Fahrt passiv zu verfolgen und wenn nötig einzugreifen. Die zweite Gruppe musste unter der Fahrt zusätzlich auf einem Tablet ein Minispiel absolvieren. Währenddessen löste der mitfahrende Versuchsleiter auf Knopfdruck verschiedene Szenarien aus: einmal einen falschen Alarm, sprich eine Übernahmeaufforderung des Systems ohne eine echte Gefahr, sowie dreimal einen stillen Alarm, sprich eine echte Gefahrensituation ohne Übernahmeaufforderung. Dabei handelte es sich um das Überfahren einer Haltelinie mit Stoppschild, das Abdriften auf die Gegenfahrbahn und plötzliches Ausweichen vor einem irrtümlich erkannten Hindernis.
Beim falschen Alarm konnten alle Probanden erfolgreich das Steuer übernehmen. Ganz anders beim stillen Alarm: In der Gruppe mit Minispiel gelang es je nach Szenario 58 bis 89 Prozent nicht, vor Erreichen des potenziellen Kollisionspunkts die korrekte Übernahmehandlung auszuführen.
Wenig besser sah es in der Kontrollgruppe ohne Tablet aus. Hier lag die Erfolgsquote bei 24 bis 61 Prozent. "Es muss im Zuge der Typgenehmigung sichergestellt werden, dass der Fahrer niemals in die Lage kommt, plötzlich die Kontrolle übernehmen zu müssen", fordert Wagner. Es sei zudem zu diskutieren, "ob eine Nebentätigkeit in Kombination mit einem Mindestmaß an Überwachung des Fahrsystems und der Verkehrslage, so wie sie das Gesetz in seiner aktuellen Form vorsieht, überhaupt menschenmöglich und sicher ausführbar ist".
Bislang sei das Problem kaum erforscht: Weniger als zehn Prozent der zum Thema publizierten wissenschaftlichen Arbeiten befassen sich mit diesem Punkt. Damit ist der "sicherheitskritischste Aspekt" beim hochautomatisierten Fahren laut Wagner unterrepräsentiert.
Aus dem Datencenter:
Testkilometer und prognostizierter Marktanteil automatisierter Fahrzeuge